Eine Gefangene ihrer Klasse?
10.06.2024
Im Westfälischen Literaturarchiv liegt der Großteil von Annette von Droste-Hülshoffs Nachlass, unter anderem der Meersburger Nachlass. Die Droste-Forschungsstelle ist bei der Literaturkommission für Westfalen für die Erforschung und Vermittlung dieser Nachlassbestände zuständig.
Vor Kurzem erreichte die Forschungsstelle eine neue Anfrage: Wie wurde Annette von Droste-Hülshoff in der DDR literarhistorisch eingeordnet?
Eine Frage, auf die ich und – wie ich nach einiger Recherche feststellen musste – auch die Forschung keine schnelle Antwort hatte. Als Volontärin in der Forschungsstelle habe ich mich daran gemacht, mir ein eigenes Bild anhand der Quellen zu bilden; von Kapiteln zu Droste in literaturgeschichtlichen Überblickswerken, Einleitungen zu Werkausgaben und nicht zuletzt einem 'Droste-Roman' aus der DDR.
Bild oben: Titelei von Elke Erb: Annette von Droste-Hülshoff (= Poesiealbum 73). Berlin 1973.
Literaturgeschichtsschreibung in der DDR
Die Rezeption in der DDR-Literaturgeschichtsschreibung fällt in das Paradigma "Kulturelles Erbe". Das bedeutet die Auswahl und Umwertung bzw. Aneignung von literarischen Werken nach sozialistischen Kriterien und Anforderungen. Auch heute werden Autor*innen gern 'wiedergelesen' oder 'neu entdeckt' beispielsweise unter Gender- oder ökokritischen Aspekten. In der DDR geschah diese Neudeutung jedoch überwiegend nach verpflichtenden Maßgaben des Marxismus-Leninismus und den (teils tagesaktuellen) Inanspruchnahmen der Kulturpolitik.
Der Abschnitt 1830–1890 ist dabei weniger stark rezeptiert als andere. Droste wird in diesem Kontext einem parallel zu zeitgenössischen Entwicklungen zwischen 1830 und 1848/49 laufenden humanistischen Frührealismus zugerechnet, der klassenbedingt zu sonderlichen Einsichten in gesellschaftliche Verhältnisse nicht in der Lage ist: "Bedingt durch die Gebundenheit an ihre Klasse, war die Droste unfähig, den gesellschaftlichen Prozeß insgesamt zu begreifen", resümiert Rudolf Walbiner in der Einleitung zu seiner 1978 erschienenen Droste-Werkausgabe in der Bibliothek deutscher Klassiker. (Walbiner, S. 23)
Dennoch, so Walbiner seien bürgerlich-progressive und humanistische Ideale durch die Restaurationsepoche nach 1815 bewahrt worden; es sei zu einer Annäherung an realistische Schreibweisen gekommen. So wertet Walbiner Droste als einen der "bedeutenden Realisten des 19. Jahrhunderts." (35) Auf diesem Argumentationsweg kann Droste für das eigene Erbe beansprucht werden; als Vorstufe eines bürgerlichen Realismus, der sich im langen historischen Bogen dann zum kritischen und schließlich zum sozialistischen entwickelt.
"Versteckte[r] Klassenkampf" in der Judenbuche
Insbesondere Drostes Judenbuche wird immer wieder thematisiert. In den Erläuterungen zur Deutschen Literatur des Vormärz (1977) wird sie zwar als eine der künstlerisch besten und ausdrucksstärksten Novellen deutscher Dichtung" (137) bezeichnet, und dafür gelobt wie sie "im Rahmen ihrer patriarchalen Vorstellungswelt die Partei der Armen ergreift" – "Ja, indirekt klagt sie ihre Klasse an, daß sie letztlich für die Zustände verantwortlich ist". Dennoch wird Droste selbst das Bewusstsein für diese Deutungsebene abgesprochen: "Die Dichterin freilich, der solche Einsicht versagt war, begreift diese Vorkommnisse [...] aus der unklaren historischen Entwicklung der Rechtsverhältnisse von der Markwaldung zum feudalen Privateigentum." (135)
Noch stärker formuliert es Rudolf Walbiner:
Welche Macht hat diese Verhältnisse gerade so geschaffen und den Willen des Menschen so determiniert, daß es bis zum Mord kommen muss? Die Droste weiß keine Antwort. Unfähig den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu erkennen, kommt es ihr nie in den Sinn, das Schicksal Mergels nur als den besonderen Ausdruck der allgemeinen Lage einer ganzen Klasse zu sehen. (28)
Annettes späte Liebe – Ein Droste-Roman
Drostes Leben wurde diverse Male fiktional verarbeitet, breitere Bekanntschaft erlangte zuletzt Katrin Duves Roman Fräulein Nettes kurzer Sommer (2018). In der DDR schreibt Joachim Lindner mit Annettes späte Liebe (1982) einen Droste-Roman, der sich der Verbindung zwischen ihr und Levin Schücking widmet.
Dieses in der Forschung zwar nicht abschließend geklärte, doch wahrscheinlich eher freundschaftliche Verhältnis wird vom Autor zu "einer großen, verzichtenden Liebe" gedeutet: "Ob er sie liebte? Vielleicht – gewiß aber nicht so, wie sie es sich insgeheim wünschte."
Titelei von Joachim Lindner: Annettes späte Liebe. Erzählung vom Leben und Dichten der Annette von Droste-Hülshoff. Berlin 1982.
Gut recherchiert erzählt der Roman die Erinnerungen, die Droste kurz vor ihrem Tod vor sich sieht: Von der ersten Begegnung mit Schücking, ihrem Beistand nach dem Tod seiner Mutter, die Meersburg-Aufenthalte bis zum Erkalten der Beziehung nach Schückings Heirat.
Droste wird dabei durchaus nicht unpolitisch portraitiert. So äußert sie beim Spaziergang durch die Heidelandschaft die Befürchtung: "In vierzig oder fünfzig Jahren wird es hier statt der langsam wachsenden Laubwälder nur noch Nadelhölzer geben, die schnellere Erträge sichern." (24) Könnte man hier schon eine sanfte Kapitalismuskritik lesen, wird sie kurz darauf konkreter hinsichtlich kommender politischer Umbrüche: Sie kenne ihre Standesgenossen "und fürchte, daß sie nicht bereit sind, auch nur auf einen Teil ihrer Rechte und Vorrechte zu verzichten. Wenn ich die Gabe des zweiten Gesichts besäße wie viele meiner Landsleute, würde ich voraussagen, daß darum Verwicklungen wie erst jüngst wieder in Frankreich auch in Deutschland nicht ausbleiben können". (26)
Doch sieht sie diesem Umsturz nicht mit Hoffnung entgegen und befürchtet vor allem eine Verstärkung der Ausbeutung der Arbeiter*innen: "Ich kann nur nicht glauben, daß das Besitzbürgertum, wenn es zur Macht gelangt, sich anders verhält als der Adel, den es so heftig bekämpft; ich bin überzeugt, daß der Bürger seine einmal errungenen Rechte und Vorrechte mit Zähnen und Klauen verteidigen wird, unbekümmert um das Wohl und Wehe der unteren Schichten, die die Handarbeit machen und die Maschinen bedienen müssen. Sind nicht jetzt schon Frauen und Kinder für ein geringes Entgelt zwölf Stunden täglich an den Webstuhl gefesselt?" (131f.)
Als Droste über ein Gespräch über ihr Gedicht "Am Thurme" (1842) auf die Situation der Frauen, gebunden "an Herkunft, Familie, Sitte und Gewohnheit", zu sprechen kommt, mahnt Schücking: "'Das zielt ins Gesellschaftliche und Politische, davor solltest du dich hüten, das ist nicht dein Gebiet.' Sie warf den Kopf in den Nacken. 'Dann werde ich dir beweisen, daß ich auch dieses Feld bestellen kann, und in meinem Gedichtband Zeitbilder aufnehmen.'" (100)
Auch ihre eigene Position wird von Schücking hinterfragt: "'Es gilt als modern und zeitgemäß, leidenschaftlich für den Fortschritt Partei zu ergreifen in der Lyrik, du äußerst aber Zweifel und Bedenken, stellst dich aber auch nicht voll und ganz hinter die Konservativen.' 'Das kann ich nicht, ich bin nicht bereit, Abgelebtes und Überholtes zu verteidigen.' 'Dann wirst du dich zwischen alle Stühle setzen, den Fortschrittlern nicht fortschrittlich, den Konservativen nicht konservativ genug sein.'" (101)
Die Erzählung wird von verschiedenen Linoldrucken von Hans-Eberhard Ernst begleitet, wie diese Szene in Rüschhaus. Hier sitzt Droste an ihrem Schreibtisch und bespricht mit Schücking ihre Gedichte. Obwohl sie sitzt und er steht, ist sie doch Zentrum des Bildes, strahlt Ruhe und Sicherheit aus, während Schücking am Bildrand steht und ihre Gedichte hält:
Illustration von Hans-Eberhard Ernst. In: Joachim Lindner: Annettes späte Liebe. Erzählung vom Leben und Dichten der Annette von Droste-Hülshoff. Berlin 1982, S. 69.
Was tun?
Vielleicht sollte vor dem Reflex, die Deutungen als bloßen Teil der ideologischen Propaganda und sozialistische Inanspruchnahme abzutun, kurz innegehalten werden. Droste wird als Adelige zugegeben wenig interessiert daran gewesen sein, die bestehenden Klassenverhältnisse zu hinterfragen. Ihrem Werk jeglichen politischen Inhalt abzusprechen, scheint jedoch auch nicht angebracht.
Die Lösung, die hier gewählt wurde, um ihre Klassengebundenheit und die Inhalte ihres Werkes miteinander in Einklang zu bringen, widerstrebt mir: Droste als Gefangene ihrer Klasse, die blind war für eine materialistische Erfassung der Welt und nur 'ganz aus Versehen' die sozialen Verhältnisse kritisiert – ohne es selbst zu bemerken. Ihre private politische Überzeugung ist nicht mehr zu rekonstruieren. Doch liefert das Werk eben doch einzelne Hinweise darauf, dass sich Droste sehr wohl der sozialen und damit politischen Verhältnisse ihrer Zeit bewusst war.
(Alexandra Schwind)
Literatur
Elke Erb: Annette von Droste-Hülshoff (= Poesiealbum 73). Berlin 1973.
Joachim Lindner: Annettes späte Liebe. Erzählung vom Leben und Dichten der Annette von Droste-Hülshoff. Berlin 1982.
Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen: Vormärz 1830–1848. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Berlin 1977.
Kollektiv für Literaturgeschichte der Abteilung Deutschunterricht: Leseproben zur Literatur des Vormärz. 1830 bis 1848. Berlin 1953.
Rudolf Walbinger: "Einleitung". In: Droste-Hülshoffs Werke in einem Band. Berlin u. Weimar 1978, S. 5–35.